Festrede zum 15. Mediascher Treffen 2023

Gemeinschaft – unser höchstes Gut

Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer!

Der Vorstand unserer Heimatgemeinschaft hat, wie wir wissen, für das diesjährige Treffen das Motto „Gemeinschaft – unser höchstes Gut“ ausgegeben. Das ist eine sehr eindeutige These.

Allerdings – löst nicht jede Eindeutigkeit oft Zweifel aus? Reizt sie nicht zum Widerspruch, weckt die Lust, zu widersprechen?

Ich glaube, dieses Motto lädt einen dazu ein, Überlegungen zum Gedankenkomplex „Gemeinschaft“ anzustellen, Überlegungen von denen ich Ihnen nun einige vorstellen möchte. Vielleicht gelingt es so zu erkennen, ob man die Gemeinschaft als unser höchstes Gut ansehen kann oder ob Zweifel berechtigt sind.

„Wehe dem, der allein ist; wenn er fällt, so ist kein anderer da, der ihm aufhelfe.“

Diese Aussage, die dem biblischen König Salomo zugeschrieben wird, verdeutlichen das grundlegende Dilemma des Menschen: Der Einzelne kann nicht problemlos alleine existieren. Denn wenn er in eine Notlage geraten sollte, so braucht er den anderen oder die anderen, also eine Gemeinschaft, die ihn wieder aufrichtet.

Demnach ist der Begriff Gemeinschaft im Sprachgebrauch gewöhnlich positiv konnotiert. Oder haben Sie schon von einer Räubergemeinschaft oder von Kapitalverbrechergemeinschaft gehört?

Trotz der positiven Assoziationen zum Begriff: Mir fällt eine kleine Begebenheit ein, die sich während meiner aktiven Zeit als Lehrer zugetragen hatte. Mein Gymnasium steht in Schwalbach am Taunus, einem Ort, in dem sich viele koreanische Familien angesiedelt haben. Die Eltern arbeiten in den Niederlassungen großer koreanischer Firmen in Frankfurt. Und die Kinder aus diesen Familien kommen ohne Deutschkenntnisse zur Schule. Sie belegen Deutsch-Intensivkurse, um durch das Erlernen der Sprache schnell in den Unterrichtslalltag einsteigen zu können.

Als ich einmal einen solchen Intensivkurs unterrichtete, lasen wir einen Text, in dem das Wort Gemeinschaft vorkam. Auf meine Frage hin, was das denn bedeute, herrschte erst betretenes Schweigen. Denn Sie müssen wissen, dass in der koreanischen Mentalität eine falsche Antwort gleichbedeutend mit Schande ist und keines der Kinder wollte sich exponieren. Doch schließlich meldete sich ein kleiner Sechstklässler und sagte in gebrochenem Deutsch: „Gemeinschaft, das ist – viele böse Kinder.“ Sie werden nicht überrascht sein, dass diese Antwort nicht meinen Erwartungen entsprach. Und auf meine Frage, wie der Junge darauf komme, erklärte er mir (so gut er das auf Deutsch konnte) Folgendes: In den Pausen spielt er immer mit seinen deutschen Kameraden Fußball auf dem Schulhof. Nun kommt in letzter Zeit öfter ein älterer Junge, der schubst die Kleinen beiseite, schnappt sich den Ball und lässt die anderen nicht weiterspielen. Und letztens habe einer der anderen Sechstklässler diesem Rowdy gesagt: „Du bist sooo gemein!“ Und daraus schloss mein Schüler: gemein gleich böse, folglich Gemeinschaftviele böse Kinder. So klärte sich das Missverständnis.

Und die Überlegung war auch nicht ganz abwegig, denn Gemeinschaft und Gemeinheit, gemeinsam und gemein sein diese Begriffe gehören alle zur selben Wortfamilie. Alle vier Begriffe sind auf das gleiche Wort zurückzuführen, nämlich auf das mittelhochdeutsche Wort gimēni. Und mit diesem Wort bezeichneten auch schon unsere Vorfahren, als sie sich im 12.-13. Jahrhundert in Siebenbürgen niederließen, etwas Allgemeines, etwas Gewöhnliches, etwas Zur-Masse-Gehöriges. Und daraus haben sich dann im Laufe der Jahrhunderte im Neuhochdeutschen die so unterschiedlichen Bedeutungen entwickelt. Das siebenbürgisch-sächsische „de Gemin“   (für „Gemeinde“) ist also direkt aus dem Mittelhochdeutschen gimēni entstanden.

Wie definieren wir heute den Begriff Gemeinschaft?

Ein Blick in den Brockhaus verrät es uns:

„Gemeinschaft bezeichnet das gegenseitige Verhältnis von Menschen, die auf einer historisch gewachsenen, 
religiös-weltanschaulichen, politisch-ideologischen, ideellen oder einen eng begrenzten Sachzweck 
verfolgenden Grundlage verbunden sind:“

Und als Beispiele nennt das Lexikon:

„Volk, Nation, Staat, Kirche, Gemeinde, Ehe, Familie, Freundschaft, Interessensorganisation, Verein u.a.“

Die Definition macht klar, wie komplex der Begriff ist, denn er kann sich auf so gut wie alle Bereiche des menschlichen Lebens beziehen. Somit ist auch klar, dass der Begriff Gemeinschaft hier und heute nicht tiefgründig und allumfassend erörtert werden kann, dass also nur einzelne Aspekte angerissen werden können. Dabei werde ich im Folgenden Beispiele aus der Literatur und aus unserer (größtenteils siebenbürgischen) Geschichte und Wirklichkeit heranziehen.

Und dabei lässt mich der Satz meines koreanischen Sechstklässlers nicht los: „Gemeinschaft, das ist – viele böse Kinder“ und, verallgemeinert gesagt, viele böse Menschen.  Eine ähnliche Aussage findet sich in einem Text von Kurt Tucholsky.

Tucholsky war einer der produktivsten und prominentesten Journalisten und Schriftsteller der Weimarer Republik Als überzeugter Demokrat und Pazifist betrachtete er mit großer Sorge und Empörung die politischen und gesellschaftlichen Konflikte und Krisen der end-zwanziger Jahre: die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken und den wachsenden Nationalismus. In seinen Texten wollte Tucholsky den Deutschen einen Spiegel, besser gesagt, einen Zerrspiegel, vorhalten. Er hoffte, durch Ironie, Sarkasmus und zum Teil maßlos übertriebene Darstellungen Widerspruch zu provozieren.

So schafft er in seiner Satire „Der Mensch“ ein eigenartiges Bild der Gemeinschaft:

„[…] Der Mensch ist ein politisches Geschöpf, das am liebsten zu Klumpen geballt sein Leben verbringt. 
Jeder Klumpen hasst die anderen Klumpen, weil sie die anderen sind, und hasst die eigenen, weil sie die 
eigenen sind. Den letzteren Hass nennt man Patriotismus.“

Und etwas weiter unten im Text heißt es:

„[…] Menschen miteinander gibt es nicht. Es gibt nur Menschen, die herrschen, und solche, die beherrscht 
werden. Doch hat noch nie­mand sich selber beherrscht; […]“

Die Gemeinschaft ist also laut Tucholsky ein „Klumpen“, bestehend aus sich hassenden, unbeherrschten Individuen, von denen jedes jedem feindlich gesonnen ist. Dieses negative Menschen- und Gesellschaftsbild sollte Tucholskys Zeitgenossen vor den Kopf stoßen und zur Besinnung bringen.

Dass bei solch einer Beschreibung von einer Gemeinschaft als höchstem Gut keine Rede sein kann, steht außer Frage.

Aber diese Zitate enthalten doch einen allgemeingültigen und damit aktuellen Aspekt, den ich bei Überlegungen zum Thema Gemeinschaft nicht weglassen kann. Tucholsky spricht nämlich von den „eigenen“ und den „anderen“. Und das ist meiner Meinung nach ein Wesenszug des Begriffes Gemeinschaft. Impliziert er doch, dass gleichgesinnte Menschen zusammenstehen und gleichzeitig andere außen vor bleiben. Sei es, weil sie das so wollen, sei es, dass man sie in der Gemeinschaft nicht haben will oder weil sie der Gemeinschaft einfach nur völlig egal sind, was für die betroffenen „anderen“ schmerzhaft ist.

An die oben genannten Sätze von Tucholsky musste ich in den neunziger Jahren während der Teilnahme an einer Veranstaltung der Landsmannschaft denken. Nach dem offiziellen Teil des Abends, bevor der gemütliche Teil begann, sang man wie üblich das Siebenbürgenlied. Mit Überraschung und etwas Befremden musste ich hören, dass der Schluss des Liedes in abgeänderter Form gesungen wurde, nämlich wie folgt:

„Siebenbürgen, süße Heimat,
unser teures Vaterland,
sei gegrüßt in deiner Schöne
und um alle Sachsensöhne
schlinge sich der Eintracht Band.“

Es hieß also nicht wie im Original „um alle deine Söhne“.

Da hatte ich es wieder, das, was Tucholsky das Eigene und das Andere nannte. Ich weiß nicht, ob Maximilian Leopold Moltke, als er die Verse des „Siebenbürgenliedes“ 1846 schrieb, nur Sachsen zur Einheit aufrief oder alle in Siebenbürgen Lebenden. Ich glaube auch, dass diese Abwandlung in „Sachsensöhne“ nicht unbedingt etwas Patriotisches oder Nationalistisches darstellte. Ich vermute vielmehr, dass es Ausdruck der Sehnsucht nach etwas Verlorenem war.

Denn alle im Saal Anwesenden hatten früher zu der großen siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft gehört und gleichzeitig in vielen kleineren Gemeinschaften ihre Wurzeln gehabt: in der Familie, in Kränzchen, Vereinen etc. Und diese Gemeinschaften hatten sie aufgegeben. Einerseits freiwillig, andererseits von den politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten veranlasst. Nun waren sie nach Deutschland gekommen mit der Überzeugung, hier Teil der Eigenen zu sein und mussten feststellen, dass sie zu den Anderen gehören.

Und das Heraufbeschwören der Einheit der Sachsensöhne könnte eine Art Kompensation für die erlebte Erfahrung sein. Eine Erfahrung, die wir alle machten, nachdem wir den Schritt nach Deutschland unternommen hatten.

Diese Erfahrung, nicht dazu zu gehören, schildert die aus Kasachstan stammende Graphikerin Tatjana Lorenz in einem Interview. Sie beschreibt, wie sie als Schülerin zum ersten Mal ein deutsches Gymnasium betrat.

„Unsere Ankunft dort wurde für mich symbolisch für Ankunft schlechthin. 
Ein magischer Moment: Wir betraten eine bunte Schule, mit gemalten Bildern an den Wänden! 
Genau so hatte ich ‚den Westen‘ in meinen Träumen gesehen. Im selben Augenblick kam ein Punk mit 
Irokesenschnitt die Treppe herunter. Ich dachte: 
Ein Land, wo schon Schüler ihre Persönlichkeit so deutlich ausdrücken dürfen, wird auch mich mit offenen 
Armen empfangen. Herr Hähnel [der Lehrer] führte mich in eines der Zimmer. Man wies mir einen Platz in der 
zweiten Reihe zu, direkt hinter dem Klassensprecher. Dieser drehte sich gleich integrierend zu mir um, 
blickte mir betont offen ins Gesicht und trat voll ins Fettnäpfchen mit dem Satz: 
‚Deine Wangenknochen sind irgendwie anders.‘
Alle betrachteten mich wie im Zoo.
Ich war eine von drei Ausländerinnen. Der Wille der deutschen Schülermehrheit, mich zu integrieren, 
hielt nicht lange an. Es muss wohl daran gelegen haben, dass ich einfach zu langsam sprach.“

Und Maria Lorenz, die Mutter der Graphikerin, erzählt:

„Alles hat seinen Preis, vor allem die Integration. Wir unterwarfen uns ständig einer strikten Selbst-
kontrolle. Unser Erfolg hängt stark davon ab, wie ‚Einheimische‘ uns wahrnehmen. Bestimmte Schamgefühle 
sind uns in Fleisch und Blut übergegangen. Wenn wir spazieren gehen, bestehe ich immer darauf, dass wir 
Deutsch miteinander reden. Aber manchmal gleitet unser Gespräch doch ins Russische ab. 
Und wenn sich dann andere Spaziergänger in Hörweite befinden, wird mir die Situation schlagartig peinlich. 
Fast so, als hätte ich etwas Unanständiges getan.“

Diese Passagen verdeutlichen, wie groß das Bedürfnis ist, Teil der Gemeinschaft zu sein und wie schwer es sein kann, ein solcher zu werden. Man will ja bestimmt dazugehören und ist bereit, dafür Opfer zu bringen. Gleichzeitig ist es verständlich, dass man das Aufgegebene und damit Verlorene verherrlicht.

Zugehörigkeit zur Gemeinschaft – sie ist ein hehres Ziel, das mit Verlustangst gepaart sein kann.

Was kennzeichnet nun eine vorbildliche Gemeinschaft?

Auf der Suche nach einem Beispiel aus der Literatur, woraus das Wesen einer Gemeinschaft ersichtlich wird, bin ich schnell in Goethes Tragödie „Faust“ fündig geworden.

Wenn jetzt einige von Ihnen skeptisch die Augenbrauen hochziehen und sich fragen: Gemeinschaft? In ‚Faust‘? Das ist doch das Drama um den egozentrischen Gelehrten aus längst vergangenen Tagen, um Faust, den Einzelgänger, der rücksichtslos seine Ziele verfolgt. Wo soll da Gemeinschaft ihren Platz haben?

Natürlich haben Sie mit diesen Gedanken nicht ganz unrecht. Faust ist der unaufhaltsam strebende Wissenschaftler, der keine Grenzen anerkennt, der das vollkommene und vollständige Wissen erlangen will („was die Welt im Innersten zusammenhält“ nennt er sein Ziel). Und weil er das mit irdischen Mitteln nicht erreichen kann, schließt er einen Pakt mit Mephistopheles.

Mephisto wird von Goethe mal als Teufel, dann auch als der „Geist der stets verneint“ oder als „Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“, bezeichnet.

Nun beginnt Fausts Weltfahrt, in der der Protagonist Schuld auf sich lädt, weil er mit Mephistos Hilfe rücksichtslos und egoistisch seine Ziele verfolgt. Faust wird jedoch feststellen müssen, dass nichts von dem, was er mit Mephistos Hilfe erleben wird, ihn befriedigen kann.

Aber am Ende seines Lebens, Faust ist bereits ein blinder Greis, da hat er eine Vision. Und zwar beabsichtigt er, am Meeresufer einen Sumpf trockenzulegen, durch Dämme neues Land für eine neue Gemeinschaft zu schaffen. Er schildert das so:

[…] „Ein Sumpf zieht am Gebirge hin,  
Verpestet alles schon Errungene;  
Den faulen Pfuhl auch abzuziehn, 
Das Letzte wär das Höchsterrungene.  
Eröffn‘ ich Räume vielen Millionen,  
Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.  
[…]  
Im Innern hier ein paradiesisch Land,
Da rase draußen Flut bis auf den Rand,
Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschließen,
Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen.
Ja, diesem Sinne bin ich ganz ergeben,
Das ist der Weisheit letzter Schluss:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muss.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möchte ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von deinen Erdentagen
Nicht in Äonen untergehn. – […]“

Diese von Faust ersehnte Gemeinschaft besteht also aus freien und tätigen Menschen, die aber in einer Umgebung leben, die ständig von einer latenten Gefahr bedroht ist. Doch diese Gemeinschaft ist stark und greift sofort entschlossen ein, sobald die Gefahr konkret wird. Eine solche Gemeinschaft möglich zu machen, das ist für Faust das höchste Gut, die Erfüllung seiner Lebensziele.

Dieses Bild aus Fausts Vision führt mich zur siebenbürgisch-sächsischen Geschichte. Drohte den Siebenbürger Sachsen nicht permanente Gefahr von außen? Wandervölker, ungarische Adelige, walachische Fürsten, die Osmanen, versuchten sie nicht alle, die sächsische Gemeinschaft einzunehmen? Und schlossen sich die Bewohner nicht bereitwillig zusammen, mit „Gemeindrang“ (wie es bei Goethe heißt), um sich gegen diese Gefahr zu wappnen? Die vielen Kirchenburgen sind Zeugnis für diesen gemeinsamen erfolgreichen Kampf gegen die externe Bedrohung. Insoweit hätten unsere Vorfahren in all den Jahrhunderten ihre Gemeinschaft sicher als ihr „höchstes Gut“ bezeichnet. Schließlich war sie die Voraussetzung für ihr Überleben.

Was hat es denn ermöglicht, dass diese siebenbürgisch-sächsische Gemeinschaft sich über 700 Jahre lang erhalten konnte? Es war nicht nur der Fleiß und Überlebenswille all der Generationen. Es war auch eine straffe Organisation dieser Gemeinschaft.

Die Kirchengemeinde mit ihren Wirkungsbereichen: den Nachbarschaften, den Burschen- und Schwesternschaften, den Gesellenbruderschaften in den städtischen Zünften – sie legten sämtliche Normen fest, die genau einzuhalten waren. Sie überwachten und bestraften im Bedarfsfall deren Missachtung. Am einflussreichsten waren dabei die Nachbarschaften.

Stephan Ludwig Roth beschreibt das Wesen der Nachbarschaften wie folgt:

„Die aus einem Brunnen tranken, Brot aus einem Ofen aßen, die die Nachhut für einander hielten, die sich 
die Wohnhäuser aus gemeinschaftlicher Kraft aufrichteten, in Krankheiten und Unglücksfällen den Willen der 
Anverwandten hatten, die endlich auf derselben Totenbank ruhten, die sich einander ihre Gräber gruben, […], 
beim Tränenbrot des Verschiedenen Verdienste rühmten und aus nachbarlichem Vermögen und Beruf für Witwen und 
Waisen sorgten – diese brüderliche Gesellschaft, durch Örtlichkeit bezeichnet, nannte sich die ‚Nahen‘, 
die ‚Nachbarschaft‘“.

Die Nachbarschaften waren es also, die bis ins 20. Jahrhundert das Leben in der siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft bis ins Kleinste organisierten. Von der Wiege bis zur Bahre waren Abläufe festgelegt. Hausbau, Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen, überall halfen die Nachbarn mit. Hilfe bei Krankheits- und anderen Unglücksfällen, bei dringenden Feldarbeiten – die Betroffenen konnten sich auf ihre Nachbarschaft verlassen. Der Einzelne hätte solche Aufgaben nicht aus eigener Kraft erfolgreich stemmen können.

Adolf Schullerus benennt im Jahre 1926 in seinem Werk „Siebenbürgisch-sächsische Volkskunde“ das Wesen der siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft folgendermaßen:

„Den schärfsten Ausdruck findet der Zug zur Gemeinschaft in den Verbänden der Bruderschaften 
(Schwesternschaften) und Nachbarschaften, die bis ins einzelste die öffentliche Lebensordnung, 
vielfach auch die persönliche Betätigung in feste Regeln und Vorschriften schnüren.“

Bei einem Besuch des Siebenbürgischen Museums in Gundelsheim stellt man sehr schnell fest, wie hilfreich diese Organisationform war. Aber es wird einem auch sehr schnell klar, dass aus unserer heutigen Sicht die Menschen damals kaum Entscheidungsfreiheiten hatten. So gut wie alles war geregelt. Selbst das Aussehen eines Hemdes, in dem ein Baby getauft wurde, war vorgegeben. Individuelle Entfaltung war zu jener Zeit nur sehr begrenzt möglich. Und wer aus der Reihe tanzte, musste die Konsequenzen tragen.

Die Nachbarschaft als Organisationsform der Gemeinschaft aus unserer heutigen Sicht als doch nicht unser „höchstes Gut“?

Eine solch straffe und unflexible Organisation des gesellschaftlichen Lebens musste im Laufe der Jahrhunderte innerhalb der Gemeinschaft zu Spannungen oder sogar Konflikten führen. Das lässt sich an unterschiedlichen literarischen Texten überprüfen.

Da wäre zum Beispiel die Meisternovelle „Die Verfolgung“ aus dem Jahr 1927 von Erwin Wittstock. Einer der Aspekte, die diese vielschichtige Novelle thematisiert, ist der Konflikt zwischen dem Alten und dem Neuen, ein Konflikt, der eine Gemeinschaft in dramatische Situationen versetzen kann.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht ein Ereignis in einem siebenbürgischen Dorf. Die Protagonisten sind der alte, in der Dorfgemeinschaft sehr angesehene Bauer Litzki und der junge Mann Andreas Weidner.

Der wild gewordene Stier des alten Litzki verletzt ein kleines Kind und Weidner versucht, dieses zu retten. Er begibt sich dadurch seinerseits in Lebensgefahr: Seine Büchse, mit der er den Stier töten will, versagt. Litzki könnte den jungen Mann retten, tut das aber nicht, weil Weidner die tradierten Regeln des dörflichen Zusammenlebens verletzt hatte. Er hatte nämlich eine Liebesbeziehung mit Litzkis Enkelin abgebrochen, hatte diese sitzen lassen. Nun wird Weidner vom Stier tödlich verletzt, obwohl die Dorfgemeinschaft geschlossen versucht, ihm zu helfen.

Litzki rechtfertigt sein unbeugsames Verhalten mit folgenden Worten: „Die Gesetze sind streng, und wir können jeden bedauern, den sie treffen – aber wir können sie nicht ändern.“ Und die Dorfgemeinschaft, die Weidner helfen wollte, akzeptiert Litzkis Entscheidung, obwohl sie diese nicht gutheißt, sondern im Gegenteil mildere Gesetze wünscht.

Litzki verkörpert unter anderem das Alte, das starre Festhalten an Traditionellem, Althergebrachtem, an Regeln, die Selbstzweck geworden sind. Dabei beruft er sich auf die Pflicht, die tradierte Ordnung der Gemeinschaft zu wahren. Ein Verzeihen von persönlichem Fehlverhalten ist darin nicht vorgesehen. Dadurch wird dieses unbeugsame Festhalten am Althergebrachten tragisch. Und eine Gemeinschaft, die sich so starr an unmenschlich gewordene Regeln hält, erscheint fragwürdig.

Wittstock lässt erkennen, dass die Gemeinschaft ein sich wandelnder Körper ist, und dass Menschlichkeit und gegenseitige Hilfeleistung Werte sind, die in der Gemeinschaft höher eingestuft werden sollten als strikte Unterordnung unter tradierte Zwänge. Selbst wenn diese einst überlebenswichtig gewesen waren.

Und ein zweites Beispiel aus der siebenbürgischen Literatur möchte ich heranziehen. Darin wird das Verhältnis zwischen der Gemeinschaft mit ihren Werten und dem Individuum mit seinen Interessen verdeutlicht. Ich meine die Erzählung „Das Kulturpfeifen“ unseres Mediascher Mundartdichters Schuster Dutz.

Im Mittelpunkt der Handlung steht die wohlsituierte, geachtete und gut vernetzte Familie Gräser. Schuster Dutz beschreibt sie folgendermaßen: (Ich zitiere dabei aus dem vom Autor selbst ins Hochdeutsche übersetzten Text.)

„Die Gräserischen sorgten dafür, dass ihre Angehörigen in der Stadt etwas galten. Sie waren überall in 
gehöriger Anzahl vertreten. Und zusammen mit Schwägern, Onkeln, Gegenvätern und Vettern hatten sie auch 
die Majorität in allen maßgeblichen Körperschaften, im Presbyterium, im Kreisausschuß in der Kommunität 
und wie diese kirchlichen, politischen und städtischen Einrichtungen alle heißen mochten.“

Mit feiner Ironie ergänzt der Autor an anderer Stelle:

„So hatten denn die Gräserischen einen schweren Stand, weil sie bei allen ihren Handlungen die Leute 
glauben machen wollten, sie täten alles aus reinstem Idealismus. Das ging so weit, daß sie es sich manchmal 
selbst zu glauben schienen. Daß sie beispielsweise auch in allen einflußreichen Stellen selbst drin 
saßen und immer mehr solcher in ihre Hände zu bekommen trachteten, daß taten sie nicht um ihretwillen, 
sondern für ihr geliebtes Sachsenvölkchen.“

Und nun gelingt es Max Rehner in diese Familie einzuheiraten. Max ist (laut Schuster Dutz) ein „unverbesserliche[r] Nichtsnutz voller Hundsmücken, dem man es auf den Kopf hätte schwören können, daß aus ihm nie im Leben etwas Ordentliches werden würde“. Der gräserische Familienrat steht also vor dem schier unlösbaren Problem, für diesen jungen Mann einen dem Ansehen der Familie angemessenen Wirkungs- und Arbeitsbereich zu finden. Und das ist nicht leicht, denn Max kann nichts, außer wunderschön pfeifen.

Doch für die Gräserischen ist schließlich kein Problem unlösbar. Geschickt wird durch den Clan das Thema Pfeifen und seine Bedeutung für die Gemeinschaft in der gesamten siebenbürgisch-sächsischen Öffentlichkeit zum Gesprächsstoff gemacht. So darf Max sein Können bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf öffentlichen und privaten Veranstaltungen erfolgreich demonstrieren. Und weil die „gräserische Sippe im ganzen Sachsenland verteilt war“ (wie uns Schuster Dutz wissen lässt), wurde durchgesetzt, dass man eine Kunstpfeifakademie für das Sachsenvolk gründet. Und wen wundert es, dass aus 75 Bewerbern Max als Direktor der Kunstpfeifakademie ausgesucht wird.

Und die Satire schließt mit den Worten:

„Der Max aber wurde bald darauf wegen seiner großen Verdienste um das Sachsenvolk ins Landeskonsistorium 
gewählt. Und er trug auch dieses Opfer still und bescheiden, wie es bei den Gräserischen jeher Brauch und 
Sitte gewesen war.“

Schuster Dutz entlarvt in der Satire, wie in einer gutgläubigen kleinbürgerlichen Gemeinschaft Manipulation und strategisches Vorgehen für die Umsetzung von egoistischen Zielen genutzt werden können. Denn der Großteil der Gemeinschaft lässt solch ein Handeln ungehindert zu.

Die Gräserischen würden sicher aus Überzeugung verkünden, dass die Gemeinschaft (so wie sie diese ausnutzen) „das höchste Gut“ sei.

Bei Schuster Dutz fehlt der Gemeinschaft eine prüfende und regulierende höhere Instanz. Während bei Wittstock der alte Litzki kraft seiner Autorität diese Instanz verkörpert, ist sie im „Kulturpfeifen“ schlichtweg nicht vorhanden. Denn die Wenigen, die die Machenschaften der Familie Gräser durchschauen, kommentieren bloß: „Wir pfeifen auf euren ganzen Schwindel“.

Was lässt sich nun zusammenfassend zum Thema Gemeinschaft aus diesen Texten ableiten?

Beide Texte, sowohl Wittstocks Novelle als auch „Das Kulturpfeifen“, verdeutlichen, dass eine Gemeinschaft kein starres Gebilde sein darf. Dass sie sich ständig überprüfen muss, um sich veränderten Gegebenheiten anzupassen oder um gegenzusteuern, sobald Entwicklungen absehbar sind, die den Zielen der Gemeinschaft schaden könnten.

Sehr verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Seit den oben geschilderten Ereignissen sind nun etwa 100 Jahre vergangen, und vieles hat sich geändert. Das strenge Gesetz, wie es der alte Litzki verkörpert hat, ist längst nicht mehr gültig. Aber auch ein sanftes Gesetz, wie es die jüngeren Dorfbewohner in Wittstocks Novelle vertreten haben, hat die geschichtliche Entwicklung Mitte des 20. Jahrhunderts nicht verhindern können. Familien wie die Gräserischen gibt es vielleicht noch, aber in der aktuellen Siebenbürger und Mediascher sächsischen Gemeinschaft wären sie vermutlich erfolglos.

Denn die siebenbürgisch-sächsische Gemeinschaft hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg verändert: Die neue permanent latente Gefahr, nämlich die kommunistische Realität von der Nachkriegszeit bis in die siebziger und achtziger Jahre, hatte den Zusammenhalt der siebenbürgischen Gemeinschaft in großen Teilen gebrochen. Die meisten Siebenbürger Sachsen verließen die Heimat in Richtung Urheimat – wie es bei Adolf Schullerus heißt. Bruderschaften, Schwesternschaften, Nachbarschaften hatten und haben, soweit es sie noch gibt, ihre regulierende und bestimmende Funktion verloren.

Für die aktuelle Gemeinschaft in Mediasch und sicher auch in ganz Siebenbürgen ist inzwischen als Anker und Wegweiser erneut die evangelische Kirche getreten. Und ein wichtiger Teil des Gemeinschaftslebens läuft über die Kirchengemeinde. Hier wird eine großartige Arbeit geleistet (allen voran durch die Pfarrerinnen und Pfarrer), wie die Mediascher Kirchengemeinschaft beweist.

In seiner schriftlichen Arbeit „Seelsorge im Gottesdienst und in dessen Umfeld“ beschreibt Pfarrer Gerhard Servatius-Depner ausführlich die aktuelle kirchliche Gemeinschaft.

„Zur Kirche gehören Erwachsene wie auch Kinder, arme wie auch reiche Menschen, Gesunde und Kranke, 
freundliche, gesprächige und auch reservierte und Distanz haltende Menschen, natürlich auch Menschen 
unterschiedlicher Muttersprache, die unter Umständen nur im und durch den Gottesdienst eine Gemeinschaft 
bilden. […] Schließlich kommen im Gottesdienst auch solche Menschen zusammen, mit denen man sonst 
nie zusammenkommen würde! […] Eine solche Gemeinschaft besteht nicht aus Gleichgesinnten…“

Pfarrer Servatius-Depner verwendet in diesem Zusammenhang einen sehr treffenden Ausdruck, wenn er von der „versöhnten Verschiedenheit spricht, welche die Menschen in der Kirchengemeinde verbindet. Die Metapher (versöhnte Verschiedenheit) macht deutlich, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft, Muttersprache und Bildung in einer friedlichen, von Toleranz geprägten Realität miteinander verbunden sind. Und somit wird das gesellschaftliche Miteinander in Mediasch heute durch andere Schwerpunkte bestimmt als noch vor 50 Jahren. Was beispielsweise anders ist, erfährt man aus der oben genannten Abhandlung.

Sie trägt den Untertitel „Betrachtungen aus dem Gemeindedienst im Evangelischen Kirchenbezirk Mediasch“, und ermöglicht Rückschlüsse auf den beruflichen Alltag des Pfarrerteams. Man erfährt von Tätigkeiten, die das rein Kirchliche bei Weitem übersteigen. Beispielsweise ist es sicher anderenorts nicht selbstverständlich, dass die Pfarrerin oder der Pfarrer, die an einem Sonntag jeweils in mehreren Gemeinden predigen, zu diesen Gottesdiensten die Gläubigen aus den umliegenden Dörfern mit dem Auto abholen, damit sie am Gottesdienst teilnehmen können. Und sie anschließend wieder nach Hause fahren.

Doch nicht nur das. Während der Pandemie mit dem beengenden Lockdown wurde ein Netzwerk aufgebaut, um die Einzelnen zu erreichen, sodass niemand alleingelassen wurde. Pfarrer Servatius-Depner schreibt:

„Damit möglichst viele Gemeindemitglieder erreicht werden konnten, die eben nicht über moderne 
Kommunikationsmedien erreichbar waren, haben wir angerufen und haben die Älteren nach ihrem Wohlergehen 
gefragt, manche wurden auch bei deren Nachbarn angerufen. Jüngere, wie auch die Pfarrerinnen und Pfarrer 
selbst, die mobiler waren, standen sofort bereit, verschiedene Hilfsdienste zu verrichten wie Einkäufe 
von Grundnahrungsmitteln u.a. 
Es war sehr erfreulich zu erfahren, dass das Netzwerk der Nachbarschaft in Mediasch und auch auf den Dörfern 
noch immer sehr gut funktioniert: Menschen kauften für andere ein, man erkundigte sich nach den anderen, 
man half sich je nach Möglichkeiten. Das war und bleibt sehr tröstlich, über die Pandemiesituation hinaus!“

Solch eine Haltung zeugt nicht nur von ausgeprägtem Gemeinschaftssinn, sondern ist auch Ausdruck hoher Menschlichkeit und kommt dem, was Wittstock mit dem „sanften Gesetz“ meinte, wahrscheinlich sehr nahe.

Eine ähnlich zu beurteilende Erfahrung machte ich im vergangenen Sommer, als ich bei einem Friedensgebet in der Margarethenkirche dabei sein konnte. Knapp ein Dutzend geflüchteter Frauen und Kinder aus der Ukraine nahm daran teil. Pfarrerin Hildegard Servatius-Depner moderierte die Andacht, Frau Edith Todt, die Mediascher Kantorin, sorgte gemeinsam mit ihrem Sohn und einer Sängerin für die musikalischen Einlagen.

Es war leicht zu erkennen, wie intensiv die geflüchteten Frauen und Kinder diese halbe Stunde erlebten. Wie sie – tief in Gedanken versunken – an ihre im Kriegsgebiet Zurückgebliebenen dachten, mit welcher Würde sie für jene Kerzen anzündeten. Und das geschah mit einer Selbstverständlichkeit in einer Kirche, die nicht ihrer Glaubensgemeinschaft entsprach. Da war nichts Fremdelndes in ihrem Verhalten, nichts Aufgesetztes, sondern (neben all den Existenzsorgen) stille, ehrliche Dankbarkeit.

Es ist beeindruckend, was die kleine Mediascher Gemeinde mit dem Demokratischen Forum und dem Diakonieverein in diesem Kontext leisten! Und das Gemeinschaftsleben findet natürlich auch außerhalb der Kirche statt. Ein Blick in das Mediascher Infoblatt zeigt, wie vielseitig diese Gemeinschaftsarbeit ist. So wären beispielsweise manche Aktionen des Kultursommers und das Weinfest ohne die Beteiligung der Mediascher Gemeinschaft nicht durchführbar gewesen. Vor diesen Leistungen muss man sich tief verneigen.

Informationen darüber, was in Mediasch geschieht, erhalten wir hier in Deutschland über unsere Heimatgemeinschaft.

Sie unterscheidet sich von der Gemeinschaft in Mediasch schon durch die äußeren Gegebenheiten. Die Mitglieder leben nicht am gleichen Ort, sind verstreut über das ganze Bundesgebiet. Folglich sind Begegnungen und gemeinsame Aktionen nicht so unkompliziert durchzuführen wie in Mediasch. Das Zusammenführen einer „versöhnenden Verschiedenheit“ (wie Pfarrer Servatius-Depner es nennt) ist hier nicht denkbar und auch nicht aktuell. Was die Mitglieder der Heimatgemeinschaft verbindet, sind die Erinnerungen an die alte Heimat und die Liebe zu ihr. Diese äußert sich beispielsweise in den Spendenaktionen für Hilfsprojekte in Mediasch. Und auch in besonderen Aktionen, durch die die Mediascher Gemeinschaft beim Erhalt ihrer Einrichtungen unterstützt wird. Ich nenne hier nur den im letzten Sommer durchgeführten Sommerputz auf dem Mediascher Friedhof. Sehr wichtig für die HG ist der Erhalt des Kulturerbes. Als beispielhaft möchte ich in diesem Kontext die Sichtung und Archivierung der ehemaligen Mediascher Gymnasialbibliothek nennen.

Solche Aktionen wären nicht möglich ohne den Vorstand der HG. In unermüdlicher ehrenamtlicher Tätigkeit scheuen Vorstandsmitglieder weder Zeit noch Mühen, um die Belange der HG zu fördern. So gelingt es, das kulturelle Erbe bei uns passiven Mitgliedern am Leben zu erhalten, aber auch vor Ort, in Mediasch, so gut das geht, helfend mitzuwirken. Und dafür danke ich unserem Vorstand aus ganzem Herzen.

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Sie wissen, wenn Danksagungen gemacht werden, dann ist das Ende des Vortrags absehbar und damit heute auch eine Entscheidung darüber, wie das Motto des Heimattages gedeutet werden könnte. Kann man der Formulierung „Gemeinschaft – unser höchstes Gut“ vorbehaltlos und uneingeschränkt zustimmen?

Bevor ich diesbezüglich meinen Standpunkt nenne, muss ich aber auf noch einen, meiner Meinung nach, wichtigen Punkt hinweisen. Zu dessen Veranschaulichung wähle ich erneut ein Beispiel aus der Literatur. Es ist der Text „Blick in ferne Zukunft“, in dem Kurt Tucholsky im Jahr 1930 folgende Vision vorstellt, die ich nun in Auszügen vorlese:

„... Und wenn alles vorüber ist -; wenn sich das alles totgelaufen hat: der Hordenwahnsinn, die Wonne, in 
Massen aufzutreten, in Massen zu brüllen und in Gruppen Fahnen zu schwenken, wenn diese Zeitkrankheit 
vergangen ist, die die niedrigen Eigenschaften des Menschen zu guten umlügt; wenn die Leute zwar nicht 
klüger, aber müde geworden sind; 
[…] -: dann wird es eines Tages wieder sehr modern werden, liberal zu sein.
Dann wird einer kommen, der wird 
eine geradezu donnernde Entdeckung machen: er wird den Einzelmenschen entdecken. Er wird sagen: 
Es gibt einen Organismus, Mensch geheißen, und auf den kommt es an. Und ob der glücklich ist, das ist 
die Frage. Daß der frei ist, das ist das Ziel. Gruppen sind etwas 
Sekundäres - der Staat ist 
etwas Sekundäres. Es kommt nicht darauf an, daß der Staat lebe - es 
kommt darauf an, daß der Mensch lebe.

Dieser Mann, der so spricht, wird eine große Wirkung hervor­rufen. Die Leute werden seiner These zujubeln 
und werden sagen: 
«Das ist ja ganz neu! Welch ein Mut! Das haben wir noch nie gehört! Eine neue Epoche der Menschheit bricht 
an! Welch ein Genie haben wir unter uns! Auf, auf! Die neue Lehre -!» […] 

Und dann wird sich das auswirken, und hunderttausend schwar­zer, brauner und roter Hemden werden in die Ecke 
fliegen und auf den Misthaufen. Und die Leute werden wieder Mut zu sich selber bekommen, ohne 
Mehrheitsbeschlüsse und ohne Angst vor dem Staat, vor dem sie gekuscht hatten wie geprügelte Hunde. 
Und das wird dann so gehen, bis eines Tages ...“

Und weil Tucholsky seinen Text mit drei Punkten beginnt und ihn auch so enden lässt, deutet er an, dass dieser Wechselprozess zwischen dominierendem Gruppengefühl und anschließend gesteigertem Individualismus, nichts Einmaliges ist, sondern ein in der Historie sich wiederholendes Phänomen.

Dass Tucholsky mit dieser These nicht unrecht hat, haben die letzten Jahrzehnte gezeigt. Denn bei vielen Menschen ist das Ich wichtiger als das Wir.

Nun stelle ich mir die Frage, ob der Begriff „Gemeinschaft“ – wenn er nicht ununterbrochen von Bedeutung ist, seine Wirkung also vom Zeitgeist abhängt, ob solch ein Begriff als „unser höchstes Gut“ bezeichnet werden kann. Da habe ich leise Zweifel.

Außerdem wäre es nicht überzeugend, wenn jemand wie ich, der seine Kräfte nicht aktiv in den Dienst der Gemeinschaft stellt, diese als sein höchstes Gut bezeichnen würde.

Auch sind mir Superlative grundsätzlich suspekt.

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Was ich aber guten Gewissens sagen kann, ist Folgendes:

Eine Gemeinschaft,

  • in der dem, der gefallen ist, aufgeholfen wird;
  • in der niemand alleine gelassen und
  • in der gegenseitige Hilfe groß geschrieben wird;

eine Gemeinschaft also,

  • die nicht stur an Althergebrachtem festhält, sondern in der gemeinsame Ziele auch hinterfragt und bei Bedarf angepasst werden;

eine Gemeinschaft,

  • die offen und tolerant ist, sich anderen Glaubensrichtungen und Muttersprachen nicht verschließt, nicht zwischen den „Eigenen“ und den „Andern“ unterscheidet;

eine Gemeinschaft,

  • in der einzelne die anderen nicht für persönliche Ziele missbrauchen;
  • in der man einen Teil der eigenen Ziele in den Dienst der Allgemeinheit stellt;
  • in der man bestrebt ist, das kulturelle Erbe zu wahren und zu vermitteln –

eine Gemeinschaft, die solche Werte vertritt, stellt ein hohes, ja, sehr hohes Gut dar. Und es sollte unser Anliegen sein, diese Werte an unsere Kinder und Enkelkinder weiterzugeben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Dinkelsbühl, am 9. Juni 2023

Klaus Servatius

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Quellen:

  1. 1. Brockhaus Enzyklopädie, Band 8, S. 267, F.A. Brockhaus, Mannheim 1989
  2. 2. Tucholsky, Kurt: Zwischen gestern und morgen. Rowohlt, Hamburg 1995, S. 150 und 208f
  3. 3. Moltke, Leopold Maximilian: Siebenbürgenlied. 1846 in: http://www.siebenbuergersachsen.de/reussen/siebenbuergen/heimatlieder.htm
  4. 4. Tatjana und Maria Lorenz: Der lange Weg nach Hause. GEO Wissen Heimat, Gruner + Jahr Deutschland GmbH, Hamburg, S. 56f
  5. 5. Goethe, Johann Wolfgang von: Faust der Tragödie zweiter Teil. C.H.Beck, München 1996, V. 1159ff
  6. 6. Roth, St. L. zitiert nach Schullerus, Adolf: Siebenbürgisch-sächsische Volkskunde. Weltbild Verlag, Augsburg 1998, S.150f
  7. 7. Schullerus, Adolf: Siebenbürgisch-sächsische Volkskunde. Weltbild Verlag, Augsburg 1998, S. 146
  8. 8. Wittstock, Erwin: Die Verfolgung. aus: Aescht, Georg (Hrsg.): Europa erlesen Siebenbürgen. Wiesner Verlag, Klagenfurt 1999, S. 215ff
  9. 9. Schuster, Dutz: Das Kulturpfeifen. Literaturverlag, Bukarest 1969, S.137ff
  10. 10. Servatius-Depner, Gerhard: Seelsorge im Gottesdienst und in dessen Umfeld. Mediasch 2021, S.35 und 144